Reform des US-Wahlrechts: Not all votes are equal?

Amerika ist die älteste Demokratie der Welt. Sie stammt ein wenig aus einer anderen Zeit. Kein Wunder, dass der demokratische Prozess in den USA eine Reihe von Merkwürdigkeiten mit sich bringt, die nur schwer mit einer modernen Demokratie in Einklang zu bringen sind. Eine dieser Besonderheiten ist das System der Wahlleute, das "Electoral College".

Die Abstimmung durch Wahlleute

Der US-Präsident wird nicht in direkter Wahl gewählt. Vielmehr stimmen die Bundesstaaten seit Gründung der Nation getrennt ab und senden dann ihre Wahlfrauen und -männer nach Washington (Frauen haben in den USA seit 1920 das Wahlrecht). So war es jedenfalls Praxis, als die Verkehrswege schlecht und die zurückzulegenden Distanzen groß waren. Diese Zeit ist lange vorbei, das Wahlleute-Gremium jedoch hat überlebt. Allerdings reist heute niemand aus dem Gremium mehr nach Washington, vielmehr werden die Ergebnisse mit der Post aus den Bundesstaaten übermittelt. Wie die Wahlleute ausgewählt werden, ist laut Verfassung Sache der Bundesstaaten.

Das Electoral College beinhaltet einige Besonderheiten, die zunehmend in der Kritik stehen, führt es doch dazu, dass nicht notwendigerweise der Kandidat oder die Kandidatin, der oder die die meisten Stimmen erhält, auch die Wahl gewinnt. So erzielte der ehemalige Vize-Präsident Al Gore im Jahr 2000 die absolute Mehrheit  der Stimmen, sein Gegenkandidat George W. Bush jedoch erhielt mehr Stimmen des Electoral College. Im Jahr 2004 hätte ein Wechsel von 60.000 Stimmen den Sieg für den Demokraten John Kerry bedeutet, obwohl Präsident Bush landesweit mit 3 Millionen in Führung lag. Bush ist keineswegs der einzige oder erste Präsident, der ohne die Mehrheit der Wahlstimmen ins Amt kam. Vor ihm waren das so prominente Präsidenten wie Abraham Lincoln, Woodrow Wilson, Harry Truman, John F. Kennedy, Richard Nixon und Bill Clinton. Wie kann es dazu kommen?

Derzeit verfügen die Bundesstaaten und der District of Columbia über 538 Wahlstimmen. Jeder Staat darf so viele Wahlleute benennen wie er Abgeordnete in beiden Häusern des Kongresses hat. Da alle Staaten unabhängig ihrer Größe zwei Senator/innen entsenden, sind die bevölkerungsarmen Staaten bevorzugt.

Mehrheitswahlrecht: The winner takes it all!

Eine weitere Besonderheit ist das Mehrheitswahlrecht, das „The winner takes it all“- Prinzip. Dieses Prinzip führt dazu, dass die/der Wahlsieger/in alle Wahlstimmen des jeweiligen Bundesstaates erhält, die/der Verlierer/in keinen einzigen. Dies führt dazu, dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nicht unbedingt zu einer Mehrheit im Wahlleutegremium führt.  Das Mehrheitswahlrecht ist in der Verfassung nicht vorgeschrieben. Bei der ersten US-Wahl 1789 wurde es nur in drei Staaten angewendet. Inzwischen ist es jedoch flächendeckend die Regel.

Das Mehrheitswahlrecht schließt Minderheiten und kleinere Parteien aus und führt so zu einer ungleichen Repräsentanz des Souveräns, also der Wählerinnen und Wähler. Mehr noch: Da die Mehrheit der Staaten der einen oder anderen Partei zuneigt, findet dort gar kein Wahlkampf mehr statt. So hat der District of Columbia 2008 zu 93,4 Prozent für Barak Obama gestimmt. Die Demokratische Partei zeigt hier keinen Einsatz, für sie ist das Heimspiel schon vor der Wahl gewonnen; die Republikanische Partei verzichtet weitgehend auf den aussichtslosen Kampf. Am anderen Ende der Skala ist Wyoming: der Präsident erhielt dort nur 33,4 Prozent der Stimmen. Ein Besuch bei den dortigen Wähler/innen gilt als verschwendete Zeit. Das bedeutet, dass in  über 3/4 der Staaten die Mehrheitsverhältnisse so eindeutig sind, dass praktisch eine Partei dominiert und eine Parteienkonkurrenz, das Merkmal jeder Demokratie, gar nicht mehr stattfindet.

Hart umkämpft sind dagegen die sogenannten "Swing States" oder "Battleground States", in denen die Mehrheitsverhältnisse knapp sind. Dies ist nur in etwa einem Dutzend der Staaten der Fall, am bekanntesten sind Ohio, Florida oder Colorado. Hier, und fast nur hier, reisen die Kandidat/innen regelmäßig an, finden zahllose Wahlveranstaltungen statt und werden die berüchtigten Fernsehspots geschaltet. So hat der Kandidat Obama im Wahljahr 2008 Ohio insgesamt 63 Mal besucht, in Wyoming, Maryland oder Massachusetts und den anderen 3/4 der US-Bundesstaaten war er kein einziges Mal auf Tournee. Die Folge ist, dass die Wahlkampfstrategen ihre Kampagnen an den Themen der  umkämpften Staaten ausrichten, alle anderen finden keine Berücksichtigung.

Reform des Wahlsystems: Der National Popular Vote Compact

Der National Popular Vote Compact ist eine Initiative, die das US-Wahlrecht reformieren will. Sie soll sicherstellen, dass alle Stimmen gleichermaßen gewertet werden. Die Initiative birgt den Vorteil, dass das Wahlleutegremium erhalten bleibt, und die Staaten weiterhin selbst bestimmen können, wie sie die Wahlleute auswählen wollen. Damit wird die nahezu unüberwindbare Hürde einer Änderung der Bundesverfassung vermieden, an der bislang alle Wahlrechtsreformen gescheitert sind. Der "Compact" sieht vor, dass die Kandidatin oder der Kandidat, die oder der auf nationaler Ebene die Mehrheit der Stimmen erreicht, die Stimmen der Wahlleute aller Staaten erhält. Der Vorschlag einer direkten nationalen Wahl erfreut sich einer recht großen Popularität bei den Wähler/innen beider Parteien und auch bei den Unabhängigen.

Die entscheidende Veränderung bestünde darin, dass alle Stimmen gleich gewichtet werden, und das bereits während des Wahlkampfes. Es würde sich also für alle Parteien lohnen, in jedem Staat um alle Stimmen zu kämpfen. Welche Auswirkungen diese Änderung auf die Wahlkampfstrategien haben würde, ist unklar. Sicher dürfte sie aber eine neue Wettbewerbsdynamik in den Präsidentschaftswahlkampf bringen.

Was bedeutet die Reform für die sogenannten Dritten Parteien wie etwa die Grünen? Auf den ersten Blick wenig, aber das muss mittelfristig nicht notwendigerweise so bleiben. Dadurch dass die großen Parteien gezwungen werden, erstmals nationale Wahlkämpfe zu führen, dürften sich für die kleinen neue Spielräume auftun. Ihr Prozentanteil wäre während und nach der Kampagne Gegenstand der nationalen Berichterstattung und Debatte. Dies dürfte dritten Parteien in den für sie eigentlich entscheidenden Wahlkämpfen um die Vertretung in den Parlamenten der Bundesstaaten helfen.

Wie realistisch ist eine solche Reform?

Die Reform erfreut sich nicht nur großer Beliebtheit im gesamten politischen Spektrum, sondern auch in den für die Realisierung entscheidenden Parlamenten der einzelnen Bundesstaaten. Seit 2006 haben sich bereits 8 Bundesstaaten und der District of Columbia dem "Compact" angeschlossen. Sie verfügen über 132 Wahlstimmen oder 24% der Stimmen des gesamten Electoral College. Das ist knapp die Hälfte der 270 Stimmen, die notwendig sind, um die Reform in Kraft zu setzen. Dann nämlich hätten die „Compact-Staaten“, die Mehrheit und wären wahlentscheidend, gleichgültig, ob sich andere Staaten anschließen oder nicht und  unabhängig von einer Zustimmung des Kongresses.

Zwischenstaatliche "Compacts" sind in den USA durchaus üblich, sie sind ohne die Beteiligung des Kongresses möglich. Der Vorschlag eines „National Popular Vote Interstate Compact“, wie er offiziell heißt, räumt nicht mit allen Merkwürdigkeiten des amerikanischen Wahlsystems auf. So dürften nicht wenige Wähler/innen eines Staates überrascht und enttäuscht sein, wenn sie sich mehrheitlich für eine Kandidatin oder einen Kandidaten entschieden haben, ihre Stimmen aber den Gegenkandidaten zugeschlagen werden, weil diese landesweit die Mehrheit der Stimmen errungen haben. Der Vorschlag berücksichtigt aber die rechtlichen und politischen Hürden einer Wahlrechtsreform und hat zumindest das Potential, die erstarrte US-Demokratie in Bewegung zu bringen. Und Bewegung ist dringend notwendig in der in die Jahre gekommenen Demokratie Amerikas.